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Realistische Protagonisten

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Patricia Prezigalo Protagonisten reale Figuren

Hallo wunderbares Lesewesen, schön bist du da.

Das letzte Mal sprachen wir davon, was ein Protagonist unbedingt braucht. Na ja, zumindest meiner Meinung nach. Anscheinend hat euch das gefallen, also erhöhe ich die Schwierigkeitsstufe.

Wie schreibt man realistische Protagonisten?

Dazu gibt es auf dem Internet eine Milliarde von Tipps und Tricks. Allerdings habe ich herausgefunden, dass die meisten für mich und meine Arbeitsweise einfach nicht wirksam sind.

Ich kann meine Protagonisten nicht anhand eines Multiple Choice Testes zum Leben erwecken. Der Myers Briggs (externer Link) Persönlichkeitstest bringt mir nichts.

Auch mit den üblichen Charakterprofilen erziele ich keine guten Resultate. Die Figuren, die ich damit erschaffe sehen auf dem Papier gut aus, bekommen aber kein Leben in der Geschichte. Sie bleiben eine Ansammlung von Eigenschaften.

Vielleicht geht es dir ja gleich. Also habe ich die sechs Tipps aufgeschrieben, die für mich funktionieren. Seit ich die anwende, sind meine Figuren viel autentischer geworden. Ich habe noch nicht herausgefunden, warum das so ist, aber ich bin ja auch nicht die Göttin des Schreibens. Nur eine Autorin, die versucht besser zu werden. Und so sind auch meine Tipps zu verstehen.

1. Figuren vor Handlung

Ich plane meine Geschichten nicht. Zwar habe ich eine grobe Vorstellung davon, wo die Handlung hinführen soll, was die Themen sein werden. Aber es ist kaum eine Seite von Stichworten mit losen Ideen.

Vor der Geschichte befasse ich mich mit den Figuren – nicht unbedingt mit ihrem Äusseren oder ihren Hobbies, sondern ihrem Inneren. Ihrer Persönlichkeit, ihren Zielen, ihren Fehlern. Siehe Was braucht jeder Protagonist.

Keine Persönlichkeitstests oder Charakterprofile, sondern mit den Fragen, die ihren Kern, ihr Wesen betreffen. Wie ticken sie? Wovon träumen sie? Wie war ihr Leben? Was hat sie geprägt? Was können sie gut? Wovor haben sie Angst? Wer sind sie bevor die Geschichte beginnt? Mit ihnen zusammen finde ich heraus, wie die Geschichte sie verändert und wie sie die Geschichte formen. Das weiss ich vorher nicht.

Deswegen heisst der Tipp Charakter vor Handlung. Bei mir müssen primär die Figuren die Handlung vorantreiben und nicht die Handlung die Figuren zurechtbiegen. Das geht nur, wenn ich weiss, wer sie sind. So werden sie für mich greifbare Personen, die ich verstehe.

Der Nachteil ist: Die Handlung geht nicht mehr in die Richtung, die ich will, sondern in die, die die Figuren wollen. Daher kommt der häufige Streit mit imaginären Personen. Ich bin nicht verrückt, ich schwöre.

“It begins with a character, usually, and once he stands up on his feet and begins to move, all I can do, is trot along behind him with a paper and pencil, trying to keep up long enough to put down what he says and does.”

William Faulkner

2. Begebe dich in den Kopf deiner Figuren.

Das geschieht während des Schreibens. Da lebe ich im Kopf meines Protagonisten.

Aber nicht nur in seinem Kopf. Sondern im Kopf aller anderen auch. Ich erzähle die komplette Geschichte aus der Perspektive jeder einzelnen Figur. Natürlich ist das nur sinnvoll bei Figuren, die in mehreren Szenen vorkommen. Und selbstverständlich lebt das Meiste in meinen Notizen und findet sich nur indirekt in der Geschichte wieder.

Ich notiere mir, wer, was, warum und wie getan oder eben nicht getan hat. Ich weiss, was in ihrem Leben lief, wenn sie nicht in der Geschichte erwähnt werden. So kann ich die Kontinuität bewahren, in der Geschichte und in ihrer Persönlichkeit, ohne etwas Wichtiges zu vergessen. Denn Kontinuität ist essentiell für den Anschein von Realismus, der die Leser in die Geschichte hineinzieht.

So werde ich zur Romanfigur und schreibe von innen heraus – aus ihrer Sicht. Sie sind nicht mehr eine Sammlung von Eigenschaften, sondern ihre eigene Person mit eigener Stimme.

Der Bonus bei dieser Methode ist, dass sich die gesamte Handlung und alle Nebenhandlungen organisch aus den Handlungen der Figuren ergeben. Der zweite Bonus ist, dass ich kaum je ungewollte Perspektivenwechsel habe.

3. Studiere die Menschen um dich herum.

Ja, du musst zum Stalker werden. Das war übrigens meine sarkastische Stimme. Du sollst bitte keine illegalen oder menschlich fragwürdigen Dinge tun. Aber du musst unheimlich werden – ein wenig.

Es ist mir wichtig, meine Mitmenschen genau zu beobachten und mir mentale Notizen dazu zu machen. Wie bewegen, kleiden sie sich? Was sind die Diskrepanzen zwischen dem, was sie sagen und dem, was sie zeigen? Wie reden, essen oder trauern sie? Ihre Eigenarten, Reaktionen, Ambitionen, Enttäuschungen, Weltanschauung, etc. Ganz besonders wichtig ist, wie andere auf sie reagieren.

Wieso ist mir das wichtig?

Menschen sind komplex und vielschichtig. Nur, wenn ich die Menschen kenne, kann ich Protagonisten schaffen, die wie aus dem Leben gegriffen wirken. Das bedeutet nicht, dass ich echte Personen in meine Geschichten transportiere. Sondern, dass ich meinen Figuren diesen realen Anstrich gebe, den wir sofort wiedererkennen aus unserem Alltag.

«When writing a novel a writer should create living people; people not characters. A character is a caricature.»

Ernest Hemingway

4. Vergleiche dich mit den Figuren.

Das ist ein Tipp, der während des Überarbeitens zum Zuge kommt.

In den besten Geschichten sind die Einsätze hoch:
Karriere, Leben, Zukunft, Liebe, Kinder … Irgendetwas Wichtiges ist immer bedroht. Meine Protagonisten müssen darauf reagieren auf ihre eigene Art und Weise.

Wenn sie jedoch sehr oft so reagieren und entscheiden, wie ich es tun würde, dann habe ich mich in die Geschichte geschrieben.

Und das wäre schlecht für den «Realismus».

«Ja, aber, ich bin real. Ist es dann nicht realistischer, wenn ich mich selbst einbaue?» Höre ich dich jetzt einwenden.

NEIN. Nein, wirklich nicht. Kein Witz. Das Problem ist, das du dich selbst am besten kennst. Du musst dir nicht erklären, wie du tickst, warum du gewisse Dinge tust, was deine Persönlichkeit ist. Und ganz genau so wirst du dich in deine Geschichte schreiben. Ohne Erklärungen und ohne deine Persönlichkeit. Wir bügeln auch gern unsere Fehler etwas aus, was zugleich alles ausbügelt, was dich als Menschen ausmacht. Ausserdem ist man viel zu nett zu sich selbst, was die Geschichte zwingt deine Figur zu schonen, wo andere ein Auge verlieren würden.

Als Autor merkt man oft nicht, dass man sich in die Geschichte transportiert hat, weil die Geschichte auch ein Teil von uns ist. Aber die Leserinnen und Leser bemerken es sehr schnell und finden es meist nicht prickelnd.

Sich selbst als Figur zu nehmen, ist nicht immer schlecht. Es funktioniert in gewissen Geschichten ganz gut, wo man einen Protagonisten braucht, der möglichst cool ist, mit so wenig Persönlichkeit, dass sich jeder darin sehen kann. Wie z.B. James Bond, Twilight, etc. Aber wir sprachen von realistischen Figuren und das ist James Bond nun wirklich nicht.

5. Recherche bis zum Abwinken

Ich denke nicht, dass das lange Erklärungen braucht.

Wenn meine Protagonistin eine Ballerina-Polizistin und Schmetterlingsfee ist, dann muss ich recherchieren, was es bedeutet eine Ballerina-Polizistin zu sein und Artikel über Schmetterlinge lesen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie eine Schmetterlingsfee sein könnte. Das ist übrigens ein erfundenes Beispiel.

Wenn man über Hebammen schreibt, sollte man mit Hebammen über ihren Alltag reden.

Wenn man über eine Physik Studentin schreibt, sollte man die Fächer und Stundenpläne kennen, sowie ein bisschen etwas von Physik verstehen, sonst wirkt die Figur nicht glaubwürdig und obendrein noch dumm.

Es ist wichtig Einblicke in die Besonderheiten, Herausforderungen und Nuancen der Dinge zu bekommen, mit denen der Protagonist täglich zu tun hat.

Ich verwende in der Geschichte nicht alles, was ich erfahre, ich will ja niemanden langweilen. Aber die Informationen, die ich habe, machen das Leben meiner Romanfigur facettenreich und daher glaubwürdig.

6. Dialoge verkaufen die Figur

Von allen Tipps ist dieser hier der wichtigste. Ganz egal wie toll deine Figuren auch sind, wenn sie sprechen wie ein Roboter oder ein Stereotyp, dann werden sie niemals real wirken.

Jeder Mensch hat Marotten beim Sprechen, bestimmte Muster, die immer wieder vorkommen, ihren Wortschatz. Nutze das auch für deine Figuren.

Lege ihre Gefühle in ihre Worte. Jemand der verängstigt ist, wird nicht in langen Sätzen referieren, sondern stocken. Eine vor Wut schäumende Person wird keifen und keine logische Abhandlung liefern.

Nicht alle sind schlagfertig oder witzig oder klug. Also sollten auch deine Figuren nicht alle gleich reden.

Wie sie reden, was sie sagen und ganz besonders, was sie nicht sagen, ist das, was ihre Persönlichkeit für die Leser greifbar macht. Hier entscheidet sich, wie realistisch oder eben unrealistisch deine Figuren wirken. Aber nicht übertreiben, auch das wirkt unrealistisch.

7. Realistische Figuren, nicht reale

Das haben wir am Rande in fast allen Punkten gestreift, aber es verdient einen eigenen Punkt. Deine Figuren sollen real wirken und nicht real sein. Was das bedeutet, ergibt sich auch aus dem Kontext der Geschichte.

Es gibt im echten Leben keine Magier oder Auserwählte, die Prinzen vor bösen Drachen retten oder wunderschöne, junge Milliardäre. Zumindest nicht so häufig wie in Büchern. (siehe auch Realismus in erfundenen Geschichten)

Und trotzdem können diese Figuren real auf uns wirken. Das geht nur, wenn sie in die Geschichte passen, also plausibel für die Leserinnen und Leser sind.

Die Figuren leben in ihrer Geschichte und ihrer Welt. Wenn ich sie dort herausnehme, hören sie oft auf Sinn zu machen. Was ich damit meine? Stecke Gandalf in einen Anzug oder lass Dumbledore Lehrer in einer Muggle Schule sein. Keiner von beiden wirkt mehr real oder glaubwürdig, da sie nur für ihre Geschichten geschaffen wurden. Sie sind eben nicht real, nur plausibel. Wären sie realistisch, passten sie nicht mehr in ihre Geschichten.

Wenn die Figur und ihre Eigenschaften plausibel sind, wenn sie konsistent bleiben, werden sie auch real wirken.

So das waren meine Tipps.

Wie gesagt, diese Tipps haben für mich funktioniert und mir sehr weitergeholfen. Sie unterstützen meine Arbeitsweise und passen zu den Geschichten, die ich schreiben will. Ich erhebe hier keinen Anspruch auf auf Vollständigkeit. Und vielleicht nützt dir das nichts.

Wichtig ist auch anzumerken, dass nicht alle Figuren real wirken sollen. In satirischen Werken z.B., wird der Realismus gern überzeichnet, sodass er nicht mehr real wirkt. Nicht jede Geschichte hat die gleiche Funktion. Damit kann auch niemals alles über den gleichen Kamm geschert werden. Es gibt keine geheime Formel, die für alles funktioniert. Mehr dazu in einem anderen Artikel, denn dieser hier ist zu Ende.

Vielen Dank dafür, dass du bis zum Schluss gelesen hast. Wenn dir mein Beitrag gefallen hat, dann schenk mir doch ein Like, ein paar Sterne oder teile ihn mit deinen Freunden.

Ich poste jede Woche einen neuen Beitrag rund ums Thema Schreiben, Geschichtenerzählen und alles drumherum. Sei dabei, oder auch nicht, ich bin nicht deine Chefin. Aber ich würde mich freuen dich wiederzusehen.

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